Was mit der Hysterie passiert ist

Wenn man sich heutzutage mit der Hysterie befasst, hält man dann an einem veralteten Wissen fest? Oder anders gefragt: Hat sich das Krankheitsbild der Hysterie in Luft aufgelöst, als man vom Begriff Hysterie Abstand nahm und diesen nicht mehr verwendete?   

Warum meidet man nicht nur den Begriff – der natürlich in der Alltagssprache zum Zwecke der Abwertung missbraucht wird – sondern auch all das, was zur Hysterie gehört? Man kann doch nicht die neue von der alten Schule abtrennen?

Der renommierte Psychiater und Psychotherapeut Birger Dulz spricht sehr oft noch  – im Heute, Hier und jetzt – von einem hysteroiden (abgeleitet von Hysterie)  Krankheitsbild. So schreibt er wörtlich im Handbuch der Borderline-Störungen:

Insgesamt rechne ich Borderline Patienten mit multiplen Persönlichkeitszuständen den Borderline-Störungen auf hysteroidem Symptom-Niveau zu.

Dulz, Herpertz, Kernberg, Sachsse: Handbuch der Borderlinestörung, 2011, S. 435

Man beruft sich heute vor allem im Kreise der Traumatherapeuten und der Dissoziationsbetroffenen gerne auf Pierre-Marie-Félix Janet, der im Übrigen ein großer Verehrer des damaligen Hysterie-Experten Jean-Martin Charcot  war. Man beruft sich deswegen auf Janet, weil dieser den Begriff der Dissoziation geprägt hat. Was nie erwähnt wurde und wird, ist die Tatsache, dass es für Janet eine Selbstverständlichkeit war, die Dissoziation als eine Form der Hysterie zu betrachten.

Es war Pierre Janet, der 1893 geschrieben hat:

Das Wort Hysterie sollte beibehalten werden, auch wenn seine ursprüngliche Bedeutung (der Bezug zur Gebärmutter) sich so sehr gewandelt habe. Es ist schwierig, es heute zu ändern; in der Tat hat es eine so große und so schöne Vergangenheit, dass es schmerzlich wäre, es aufzugeben.

Pierre Janet: „Etat mental des hysteriques“ Paris, 1893. zit.n.: Stavros Mentzos: Hysterie. Zur Psychodynamik unbewusster Inszenierungen, 2012, S. 16

Was würde wohl Janet dazu sagen, hätte er gewusst, dass sich all jene vom Hysterie-Begriff distanzieren, die sich auf ihn berufen?

Was ist mit dem Begriff der Hysterie passiert?

Ich möchte noch etwas von Dulz/Kernberg et. al. zitieren. Sie sprechen von der Tatsache…:

… Tatsache, dass man unter den Hysterischen die geistig klarsten, willensstärksten, charaktervollsten und kritischsten Menschen finden kann.

Dulz, Herpertz, Kernberg, Sachsse: Handbuch der Borderlinestörung, von Dulz, Herpertz, Kernberg, 2011, S. 435

Erwähnenswert sei in dem Zusammenhang die Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim , bekannt als Breuers und Freuds „Anna O„. Ihr Wirken und Schaffen (nach ihren Therapien) für Frauen im Allgemeinen und Prostituierte im Besonderen war groß und mächtig. Was Pappenheim auf die Beine gestellt hat, war für eine Frau aus dieser Zeit einzigartig!

Trotzdem wurde der Begriff Hysterie im Laufe der Jahrzehnte mehr und mehr zum Stigma.

In der heutigen Zeit heißt Hysterie umgangssprachlich: unecht, unehrlich, emotional, übertrieben, unsachlich und theatralisch.

Stavros Mentzos schreibt dazu:

Zwar enthält Hysterisches vieles, was mit übertriebener Emotionalität, Dramatisierung, Theatralik und Unechtheit bezeichnet werden kann, aber in einem ganz anderen Zusammenhang, als es der moralisch abwertende Gebrauch des Wortes impliziert. Ein bewusst gewolltes, ein absichtlich unechtes und prätentiöses Verhalten als hysterisch zu bezeichnen ist genauso unsinnig wie widersprüchliches Verhalten ohne weiteres mit schizophren gleichzusetzen.

Stavros Mentzos: Hysterie. Zur Psychodynamik unbewusster Inszenierungen, 2012, S. 15

Sein Buch kann ich wärmstens empfehlen, denn er hat sich sehr intensiv mit der Hysterie im Damals und Heute befasst.

Man darf es als Fakt betrachten:

Menschen, die unter der Hysterie leiden, sind in einer großen Not! Dazu zählen heute all jene, die unter Konversionsstörungen , Dissoziationen, dissoziative Erscheinungen, Ich-Spaltungen (dazu zählt die Dissoziative Identitätsstörung), Amnesien, Halluzinationen (die nicht der Schizophrenie zugeordnet werden können), Pseudodepressionen, Dämmerzuständen, Pseudodemenzen, histrionischen Persönlichkeitsstörungen uvm. leiden.

Kein Mensch verzichtet freiwillig monate- ggf. sogar jahrelang (oder gar ein Leben lang) auf sein Augenlicht oder seine Bewegungsfähigkeit, um nur zwei Beispiele der Konversionsstörungen herauszugreifen.

Dass ausgerechnet Betroffene u.a. aus dem Kreis derer, die die Diagnose Dissoziative Identitätsstörung haben, den Begriff Hysterie als Abwertung missbrauchen, regt zum Nachdenken an. Ich sehe darin einen enormen Abwehrmechanismus, der aber am Ende keinem hilft, sondern einzig nur schadet.

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