Ist Hysterie eine selbständige Krankheit? 1929

Bergheimer Zeitung, Samstag, 07.12.1929

Ist Hysterie eine selbständige Krankheit?

Von Dr. med. Ludwig Mette.

„Du bist hysterisch!“ Das ist eine allzu allgemeine Redensart, die lediglich als Schimpfwort, als Bezeichnung irgendwelcher sonst nicht ausdrückbarer Eigenschaften von Menschen benutzt wird, denen das eigentliche Wesen der Hysterie absolut fremd ist. Die Allgemeinheit ist gewohnt mit dem Begriff „Hysterie“ die Vorstellung zu verbinden, daß jemand irgendetwas vorgibt, was den Tatsachen nicht entspricht. Sei es, daß der Betreffende lügt, indem er Vorgänge schildert, die nur in seiner Phantasie vorhanden, sei es daß jemand einen Krankheitszustand, ein Leiden spielt, also simuliert, um damit irgend einen greifbaren Zweck zu erreichen. Wenn eine Frau, um Männer an sich zu fesseln, irgendein Theater inszeniert, das etwas der Wahrhaftigkeit Widersprechendes vortäuscht, sei es, daß sie um einer unangenehmen Auseinandersetzung auszuweichen, plötzlich und im einzig geeigneten Moment etwa eine Ohnmacht oder sonst eine Unpäßlichkeit vortäuscht; die
Allgemeinheit nennt all diese Praktiken „hysterisch“. Viele der eben angedeuteten Vorgänge pflegen nun allerdings wirklich vorwiegend bei hysterischer Veranlagung vorzukommen. Jedoch ist es völlig verfehlt „Hysterie“ gleichsam als Schimpfwort zu benutzen. Denn es handelt sich hier genau so gut um eine Krankheit wie bei etwas anderem. Mit dem Unterschied nur, daß der Sitz eines organischen Leidens objektiv festzustellen ist, während bei dem Suchen nach dem Sitz der Hysterie genauso auf Vermutungen angewiesen bleibt wie beispielsweise beim Suchen nach dem Sitz des Charakters oder der Seele.

Ist Hysterie nun als selbständige, zeitlich abgegrenzte Krankheit mit einem gesetzmäßig ablaufenden Krankheitsprozeß anzusehen? Diese doch sehr naheliegende Frage muß verneint werden. Und gerade deshalb liegt die Beurteilung Nicht-Eingeweihter so nahe, die aus Kenntnis dieser Tatsache heraus, Hysterie lediglich als etwas dem Willen oder Geschmack des Betroffenen Untergeordnetes empfinden.

Sachlich kann man Hysterie wohl am besten eine abnorme Reaktionsart des Individuums nennen. Da gibt es nun zahllose Übergänge vom Normalmenschen zum Hysterischen. In den letzten 20 Jahren hat sich die Ansicht über diese Krankheit in der medizinischen Welt gänzlich gewandelt. Waren die Ärzte früher eventuell geneigt, dem Patienten gleichsam die Schuld für dies Leiden zuzuschieben, wissen sie heute mit objektiver Klarheit und Sicherheit, daß Hysterie ein psychischer Krankheitsprozeß, also eine krankhafte Art, Eindrücke und Erlebnisse zu verarbeiten, ist.

Die Veranlagung zu Hysterie, angeboren oder sogar vererbt angeboren, besagt nicht allemal die Auswirkung dieser Veranlagung zur eigentlichen Hysterie. Dazu pflegen in der Erziehung oder Umgebung liegende Momente ausschlaggebend zu sein. Typisch hierfür pflegt der Fall des sogenannten „unterdrückten Geltungstriebes“ zu sein. Dieser Fall tritt häufig bei dem jüngsten Kind oder einem Nachkömmling auf. Während die erwachsenen Geschwister schon ein scharf umrissenes Urteil haben, werden Aussprüche des Jüngsten nicht ernst genommen, nicht gehört. Sein eigentliches Wesen, seine Geschmacksrichtung, seine Einstellung kommen, wenn nicht der Fall der übertriebenen Verzärtelung des Jüngsten vorliegt, nicht zur Geltung. Die tastenden Versuche des heranreifenden Charakters zu unabhängiger Urteilskraft zu kommen, werden verlacht, und damit der werdende Mensch unsicher gemacht. Seine Eitelkeit bleibt ständig unbefriedigt, sein natürliches Geltungsbedürfnis ist ständig überhungert. Die selbstverständliche Folge ist ein übermäßiges Anwachsen des Bedürfnisses nach eigener Geltung. Ist nun die Veranlagung zur Hysterie da, so entwickelt sich durch diese Umstände das Verlangen, auch auf Kosten der Wahrheit, zur Geltung zu kommen, sich durchzusetzen. Solch ein Mensch beginnt unbewußt erlebte Vorfälle, auch vor sich selbst, so zu sehen und zu schildern, daß seine eigene, natürlich maßgebende Rolle bei diesen
Vorgängen von ausschlaggebender Bedeutung gewesen ist. Erreicht er auch durch phantasievolle Schilderungen kein Im-Mittelpunkt-des-Interesses-Stehen, wird er weiter in den Hintergrund gedrängt, so wird sein Geltungshunger proportional zur Stärke des an-die-Wand-gedrückt-Werdens wachsen. Eine andere Art des zu Tage-Kommens unterdrückter und ungesättigter Eitelkeit ist auch die sogenannte „Flucht in die Krankheit“.

Gelingt es dem Unterdrückten also nicht durch seine phantasiereichen Erzählungen ernst genommen oder gehört zu werden, sinnt diese unterbewußte unkontrollierte Überspannung in ihm nach neuen Momenten, großen Effekt zu machen, und findet sie im Erregen des Mitleids der Umgebung. Das Leben bietet ihm nicht das Notwendige, das Leben wird unerträglich. Es ist zu schwer, er flüchtet in die Krankheit. In ihr findet er Schutz gegen eventuelle Anfeindungen wegen seiner Lügen, durch sie erreicht er endlich, daß seine Umgebung auf ihn eingeht, interessiert an allen Vorgängen seines Lebens teilnimmt; jede Veränderung seines Zustandes erregt Interesse und Bedauern, jede Verschlimmerung des Leidens Aufmerksamkeit. Was liegt näher, als daß der Betreffende in der Krankheit gleichsam sein Glück sieht, innerlich seine Freiheit.

Es wäre nun gänzlich verfehlt, diese Flucht in die Krankheit nun etwa als „Simulieren“ zu bezeichnen. Gewiß täuscht der Hysteriker einen Krankheitszustand vor, der sich nicht mit den objektiv feststellbaren Tatsachen deckt, aber, und das ist das Wesentliche beim Hysteriker, er empfindet subjektiv die geäußerten Schmerzen tatsächlich. Während der Simulant aus der klar bewußten Absicht einen bestimmten, greifbaren Zweck zu erreichen, Schmerzempfindungen oder Leidenszustände vortäuscht, die er lediglich ausdenkt, nicht empfindet.

Und gerade darum ist der Hysteriker ein so tief bedauernswerter Mensch, der wirklich krank ist, nicht nur krank spielt, wenn auch nur seelisch, während er sich und seiner Umgebung vortäuscht, körperlich krank zu sein. Alle Eindrücke, die seine Psyche aufnimmt, verzerren sich durch die Hysterie derart, daß er sie entweder übertrieben nach oben oder nach unten empfindet.

Es können hier nur wenige Spielarten hysterischer Reaktion geschildert werden. Die Übergänge vom Normalmenschen bis zum Hysterischen sind so zahlreich, wie menschliche Charaktere. Es soll vor allem davor gewarnt werden, dem Hysteriker sein Leiden als Beschimpfung vorzuwerfen, oder dem Nicht-Hysteriker wegen irgend einer Exaltation Hysterie als unzutreffendes Schimpfwort nachzusagen. Durch Grobheit ist Hysterie nicht zu heilen, eher zu verschlimmern. Die Menschen, die daran leiden, sind geplagt genug, sie können das Leben nicht im Positiven und nicht im Negativen erfassen und gehören in Behandlung eines einsichtigen Nervenarztes.
Verschlagwortet

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