Deutscher Verein für Psychiatrie 1911

Schwäbischer Merkur, mit Schwäbischer Chronik und Handelszeitung : Süddeutsche Zeitung, S.6

Samstag, 22.04.1911

Deutscher Verein für Psychiatrie

Stuttgart 22. April. 
In der gestrigen Nachmittagssitzung zeigte zunächst Dr. Lilienstein (Bad 
Nauheim) ein neues von ihm konstruiertes Mikrophonstethoskop, das, wie es scheint, recht 
brauchbar ist. Es hat den Namen „Kardiophon“ erhalten. Sodann erstattete Prof. Dr. Bonhöffer 
(Breslau), ein geborener Württemberger, das offizielle Referat über die Frage: „Wie weit kommen 
psychogene Krankheitszustände und Krankheitsprozesse vor, die nicht der Hysterie zuzurechnen 
sind.“ 

Man ist beute anderer Ansicht als Esquirol und Griesinger. Emotionelle Erlebnisse lassen sich im Ganzen nicht als Ursachen psychischer Erkrankung aufstellen. Nur bei Hysterischen spielen 
psychische Faktoren als ursächliches Moment eine große Rolle. Begriff und Wesen der Hysterie ist 
nichts weniger als geklärt. Die psychogene Entstehung hysterischer Krankheitserscheinungen ist 
unbestritten. Die sog. hysterischen Stigmata, die sich übrigens auch bei andern Krankheitsbildern 
finden, können fehlen und es kann doch Hysterie bestehen. Wilmanns lehnt Hysterie als 
umschriebene Krankheit ab, er läßt nur den „hysterischen Typus“ gelten. Was heißt aber 
„hysterischer Typus“? Jedenfalls nicht Suggestibilität. Bewußtseinspaltung usw., alle diese 
Symptome treten auch bei andern Degenerationszuständen auf. Nach B. ist die Abspaltung 
psychischer Komplexe unter dem Einfluß einer bestimmt hysterischen Willensrichtung 
charakteristisch. Auf die Einzelheiten des sehr interessanten Vortrags kann hier nicht weiter 
eingegangen werden. 

An das Referat schloß sich zunächst ein Vortrag von Prof. Dr. Gaupp-Tübingen an, der 
„über den Begriff der Hysterie“ sprach.  Auch nach Gaupp ist ein Ergebnis aus all den vielen 
Bemühungen um das Wesen der Hysterie doch wohl als sicher zu verzeichnen: die Hysterie ist keine 
selbständige Krankheit, wenn wir darunter einen zeitlich abgrenzbaren und gesetzmäßig 
ablaufenden Krankheitsprozeß verstehen, dem eine fortgeschrittene Histopathologie auch den 
anatomischen Befund zuweisen wird. Sondern auch nach Gaupp ist die Hysterie eine abnorme 
Reaktionsweise des Individuums und zahllose Übergänge führen vom Normalmenschen ganz 
allmählich hinüber zum ausgesprochen Hysterischen. 
Die Hysterie ist, um einen Ausdruck von Hellpach heranzuziehen, eine „reaktive Abnormalität“, keine produktive; sie ist formal, inhaltlich und zeitlich durch die Einwirkung äußerer Faktoren auf eine 
besonders geartete Psyche bestimmt, ganz im Unterschied von dem gesetzmäßigen Ablauf anderer 
Psychosen, die, wenn sie einmal im Gang sind, ihren eigenen inneren Gesetzen gehorchen und weder symptomatisch noch zeitlich so unberechenbar sind, wie die hysterischen Erscheinungen. Der 
Seelenzustand, den wir als die Grundlage der hysterischen Symptome ansehen, ist in seiner 
pathologischen Bedeutung nicht immer gleich zu bewerten: er kann im einen Fall dem 
Normalzustande ganz nahe stehen, im andern auf schwere Entartung hinweisen. 
Das Unterscheidende liegt nicht in der Zahl und Massigkeit der Symptome, sondern im Verhältnis von Individuum und Außenwelt. Der Seelenzustand, den man „hysterische Veranlagung“ nennt, ist keine 
starre pathologische Größe. Man hat wohl mit Recht die Hysterie eine „abnorme Reaktionsweise auf die Anforderungen des Lebens“ genannt.  

Auch der nächste Vortrag von O. Rehm-Dösen schloß sich inhaltlich an das Referat an. 
Er behandelte die spezielle Frage der Bedeutung des psychogenen Moments im 
manisch-depressiven Irresein. Sodann zeigte eine ausgiebige Erörterung, daß auch heute die 
Anschauungen  der Fachmänner über Begriff und Wesen der Hysterie noch keineswegs geklärt sind. 
Während Kohnstamm-Königstein für seine schon von Gaupp zustimmend erwähnte Ausfassung, 
wonach es sich bei der Hysterie „um einen „Defekt des Gesundheitsgewissens“ handelt, eintritt, 
bekämpft Aschaffenburg-Köln diesen Ausdruck und die zu Grunde liegende Anschauung. Sommer-Gießen versucht eine schärfere Trennung der Begriffe psychogen und hysterisch 
durchzuführen, findet aber mit dem Vorschlag, den Ausdruck Hysterie zu reservieren für die Fälle psychogener Erkrankung, bei denen der Sexualkomplex ausschlaggebend ist, keinen Anklang. An der Erörterung beteiligten sich weiters Reisser, Raventhal-Braunschweig, Liepmann-Berlin und der Vorsitzende Beh. Rat Wöhli. – Um 5 Uhr vereinigte ein Festessen im Hotel Marquardt, abends ein Bierabend im Hotel Victoria zahlreiche Teilnehmer der Tagung.
Verschlagwortet

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