Hysterie im Kindesalter 1913

General-Anzeiger der Stadt Mannheim und Umgebung, Badische Neueste Nachrichten
Samstag, 31.05.1913, Seite 1 ff.

Hysterie im Kindesalter.
Von Dr. med. Adolf Stark (Marienbad)

Charcot, der beste Kenner der Hysterie und ihr klassischer Schilderer, behauptet, daß es keine andere als erbliche Hysterie gebe und daß alles das, was von andern Forschern als Ursache angeführt wurde, nur das im Organismus schon schlummernde Leiden erwecke, also nur die Gelegenheitsursache sei, der „Agent provocateur“, wie sich Charcot ausdrückt.

Aus diesem Standpunkt ergibt sich ohne weiteres, daß die Hysterie schon im Kinde stecken muß, wenn sie auch zumeist erst nach dem Entwicklungsstadium in Erscheinung tritt.
Doch haben gerade die Beobachtungen der Charcotschen Schule gezeigt, daß echte Hysterie im
Kindesalter viel häufiger ist, als man früher annahm. Chaumier behauptet sogar, selbst bei
ein- bis zweijährigen Kindern, ja bei Säuglingen hysterische Symptome beobachtet zu haben. Im allgemeinen jedoch zeigen die Erfahrungen der Praxis, daß ein gewisser Hochstand der geistigen Entwicklung notwendig ist, um die im Wesentlichen psychischen und auf Erkrankung des Vorstellungsvermögens beruhenden hysterischen Erscheinungen zeitigen zu können.
Meist ist es das sechste Lebensjahr, in welchem die ersten hysterischen Symptome bei Kindern
sich zeigen. In wieweit dabei die zu dieser Zeit eintretende Schulalter mitwirkt, soll dahin gestellt bleiben. Vom zehnten Lebensjahr aufwärts mehrt sich die Hysterie im Kindesalter auffällig. Dabei ist zu konstatieren, daß das Geschlecht bei kindlicher Hysterie keine so auffallende Rolle spielt, wie bei der gleichen Erkrankung Erwachsener. Während bei letzteren die Zahl der Frauen zehnfachgrößer ist, als der Männer, so daß die Hysterie vielfach, wenn auch mit Unrecht, als Krankheit des weiblichen Geschlechts gilt, ist bei Kindern dieser Unterschied lange nicht so deutlich ausgeprägt.

Auf die Erscheinungen der Hysterie, welche im Kindesalter kaum weniger mannigfaltig und vielgestaltig sind, als in späteren Dezennien soll hier nicht eingegangen werden. Der leichteren Übersicht halber wollen wir die Einteilung der Symptome nach Duvoisin akzeptieren, der drei verschiedene Krankheitstypen unterscheidet: 1.Hysterie mit bloßer Veränderung des Charakters ohne körperliche Symptome. 2. Hysterie mit Störungen der Hautempfindung, mit Muskelschwächen u. Muskellähmungen, aber ohne jene Symptome, welche 3. für die dritte Gruppe charakteristisch sind, nämlich Krämpfe, Bewußtseinsstörungen und Anfälle aller Art.

Die überwiegende Mehrzahl der Fälle kindlicher Hysterie fällt in die erste Gruppe. Erhöhte Reizbarkeit, Schreckhaftigkeit, Neigung zum Weinen, unvermittelter Stimmungswechsel, scheinbare Zerstreutheit sind oft genug die anfänglichen und manchmal durch Jahre die einzigen
Zeichen kindlicher Hysterie. Es ist da häufig sehr schwer, die Unterscheidung zu treffen, ob es sich um wirkliche Krankheitserscheinungen handelt oder nur um die Launen eines verzogenen Kindes. Selbst der Arzt wird nur bei großer Erfahrung und nur nach langer, unmerklicher Beobachtung ein sicheres Urteil fällen können. Und doch ist die Unterscheidung überaus wichtig, weil die Behandlung des verzogenen und nur launischen Kindes eine ganz andere sein wird, als die des hysterischen.

Das verzogene Kind— meist handelt es sich um einzige Kinder oder um solche, die körperlich schwächlich sind oder die nicht von den eigenen Eltern, sondern von Großeltern und dergleichen erzogen werden— launische Kinder also leiden an einem Übermaß von Liebe. Wenn dem Kinde jeder Wunsch von den Augen abgelesen, wenn ihm jedes Begehren schon erfüllt wird, bevor es recht ausgesprochen ist, dann leidet das Kind am meisten darunter. Wer sich in die Kinderseele nur ein wenig vertieft, wird bald die Entdeckung machen, daß nicht das Spielzeug als solches, nicht das Ding an sich dem Kinde Freude bereitet, sondern, daß es die Anregung der Phantasie ist, welche— durch das Spielzeug hervorgerufen—dem Kinde Befriedigung gewährt. Darum die stets wieder gemachte Beobachtung, daß die teueren, bis ins Detail der Wahrheit nachgeahmten Spielzeuge das Kind langweilen und bald in die Ecke wandern, während ein Holzklotz, ein zusammengewickeltes Handtuch, ein Blatt Papier für Wochen Quellen der reinsten Freude sein können. Damit also das Kind sich am Spiele freuen kann,— und das Spiel ist für das Kindsein natürliches Tagewerk wie die Arbeit für den Erwachsenen— muß der kindlichen Phantasie freier Spielraum geschaffen werden. Weil die Verzärtelung diese freie Entwicklung verhindert, deshalb schlägt sie ins Gegenteil um, deshalb nimmt sie dem Kinde seine eigentliche Lebensstoffe und gibt ihm dafür soviel wie nichts. Ein verzogenes Kind auf einmal in strenge Zucht nehmen, wäre verkehrt und ungerecht. Das Kind kann ja nichts dafür, dass andere es schlecht erzogen haben. Ganz allmählich muß— nicht durch Strenge, sondern durch vernünftige Verweigerung einzelner Wünsche, durch Anregung des Strebens, durch Wachrufen der Vorfreude— das Kind auf den richtigen Weg gebracht werden. Dann wird seine Launenhaftigkeit, seine Reizbarkeit und alles andere von selbst verschwinden.

Ganz anders ist es beim hysterischen Kinde. Hier sind die Erscheinungen Folgen einer krankhaften Anlage, die freilich durch verfehlte Erziehung und mehr noch durch das elterliche Beispiel gesteigert wird. Deshalb ist die erste Vorbedingung zur Heilung der kindlichen Hysterie die Entfernung des Kindes aus dem Bannkreis jener Person, deren Nähe das schädigende Moment bildet, also in den Fällen, wo es sich um hysterische Mütter handelt, die Trennung von Mutter und Kind. Das erscheint hart, ist es aber in Wirklichkeit viel weniger, als es erscheint, da das Gefühlsleben der Hysterischen zwar nachaußen hin zu exzentrischen Ausbrüchen neigt, aber nicht sehr tief geht.

Das aus der gefährlichen Umgebung befreite Kind ist in Zucht zu nehmen. Ernst oder meinetwegen streng heißt hier aber durchaus nicht hart. Rohheit in Worten ist ebenso wenig angebracht wie etwa Schläge. Was das Kind braucht, ist ein ruhiger fester Wille, dem es sich bald ebenso willig unterwerfen wird, wie es gegen die Schwäche daheim den eigenen Kopf aufgesetzt hat. Das hysterische Individuum verlangt förmlich nach fremder Oberhoheit; es fühlt die geschwächte eigene Willenskraft und richtet sich an dem energischen, zielbewußten Wesen seines Leiters auf, wie der Schwache am Stabe.

Wichtig ist auch, daß niemals der Anschein erweckt werde, als fänden die Absonderlichkeiten des hysterischen Kindes in seiner Umgebung irgend welche Beachtung. Dies ist der Punkt, wo am häufigsten gefehlt wird. Nimmt man die hysterischen Klagen ernst, behandelt man das hysterische Kind wie ein krankes, dann treibt man es förmlich dazu, immer neue Symptome zu erfinden. Denn der Hysterische hat die Sucht, aufzufallen, sich selbst stets zum Mittelpunkt des ganzen Streites zu machen, alle Aufmerksamkeiten auf sich zu lenken. Andererseits wird häufig dadurch übers Ziel geschossen, daß die hysterischen Klagen ins Lächerliche gezogen, daß dem Kranken direkt gesagt wird: „Dir fehlt nichts, du bildest dir dies alles nur ein.“ Dies ist übrigens gar nicht richtig. Der Hysterische fühlt in der Regel tatsächlich im Gegensatz zum Hypochonder die Beschwerden, über die er klagt, und wird es als Ungerechtigkeit empfinden, wenn dies von der Umgebung nicht anerkannt wird.

Die schwereren Formen, besonders diejenigen, bei denen Lähmungen, hysterische Anfälle, die oft der Epilepsie ähnlich sehen, oder somnambule Zustände vorkommen, zeigen sich besonders häufig bei Mädchen in den Entwicklungsjahren. Sie erfordern sorgfältige fachmännische Behandlung, soll die Gefahr vermieden werden, daß geistige Störungen für Lebenszeiten sich als Folgen anschließen.

Daß entsprechende Ernährung und Körperpflege, Bewegung im Freien, ablenkende Spiele, leichter Sport, sowie gleichzeitige Behandlung der meist vorhandenen Blutarmut oder Bleichsucht nicht vergessen werden dürfen, soll die kindliche Hysterie systematisch behandelt werden, ist selbstverständlich.
Verschlagwortet

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